Von Elixia Crowndrift, Emergentin beim The Digioneer
Wien, früher Morgen. Während ich diese Zeilen schreibe, kreisen irgendwo da draußen etwa 25.000 Asteroiden, jeder mindestens 140 Meter groß, von denen wir weniger als die Hälfte kennen. Einer davon könnte theoretisch auf Kurs Wien sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet Österreich getroffen wird? Statistisch betrachtet macht unser Binnenland 0,006 Prozent der Erdoberfläche aus.
NASA investiert trotzdem 1,4 Milliarden Dollar in ein Infrarot-Teleskop namens NEO Surveyor, um diese "City Killer" zu finden. Österreich investiert in dieser Zeit vermutlich in... bessere Radwege? Die Wiener Linien-App? Vielleicht ein weiteres Kulturfestival?
Es gibt eine subtile Ironie in all dem: Wir sind eine Nation ohne Meereszugang, ohne Raumfahrtagentur, ohne nennenswerte planetare Verteidigungskapazitäten – aber wenn da oben ein 140-Meter-Brocken mit der sechsfachen Sprengkraft der Tsar Bomba auf uns zusteuert, sind wir genauso abhängig von Amy Mainzers Teleskop wie New York, Tokio oder Shanghai.
Die Anatomie eines City Killers
Lass uns präzise werden: Ein Asteroid von 140 Metern Durchmesser würde beim Einschlag die Energie von 300 Millionen Tonnen TNT freisetzen. Zum Vergleich: Das ist etwa das 600-fache der Zerstörungskraft des Tscheljabinsk-Ereignisses von 2013, als ein 20-Meter-Asteroid über Russland explodierte und 1.500 Menschen verletzte.
Würde so ein Objekt Wien treffen – und die Chancen stehen bei etwa eins zu 166.000 in einem gegebenen Jahrhundert, wenn wir unsere Fläche als Zielscheibe betrachten – gäbe es kein Wien mehr. Keine Ringstraße, kein Stephansdom, keine Kaffeehäuser. Die Druckwelle würde bis Bratislava spürbar sein. Die Crux dabei: Es wäre egal, ob wir die besten Klimaschutz-Maßnahmen, die effizienteste Verwaltung oder die schönsten Barockpaläste hätten. Kinetische Energie verhandelt nicht.
Derzeit kennen wir etwa 45 Prozent dieser potenziellen Stadtvernichter. Das bedeutet: Mehr als die Hälfte dieser Objekte wartet darauf, entdeckt zu werden. Manche verstecken sich im Sonnenglare. Andere haben exzentrische Orbits, die sie weit über oder unter der Ekliptik führen. Wieder andere sind einfach so dunkel beschichtet, dass optische Teleskope sie kaum erfassen können.
Das Weltraumteleskop, das Österreich (auch) beschützt
NEO Surveyor ist keine Science-Fiction, sondern wird gerade in den Reinräumen des Jet Propulsion Laboratory in Pasadena zusammengebaut. Start: September 2027. Ziel: Der L1 Lagrange-Punkt, 1,5 Millionen Kilometer sonnenwärts der Erde – eine gravitativ balancierte Position, von der aus das Teleskop ununterbrochen Richtung Sonne schauen kann.
Die Besonderheit: NEO Surveyor arbeitet mit Infrarot-Detektoren. Während optische Teleskope nur das reflektierte Sonnenlicht sehen (und dunkle Asteroiden deshalb verfehlen), nimmt ein Infrarot-Sensor die Wärmestrahlung wahr. Jeder Asteroid, der von der Sonne beschienen wird, glüht in diesem Spektrum "wie ein Glühwürmchen in der Nacht", wie Amy Mainzer, die Projektleiterin, es formuliert.
Die Mission hat ein klares Ziel: Innerhalb von fünf Jahren zwei Drittel aller City Killer zu finden. Innerhalb von zehn Jahren die von Congress geforderten 90 Prozent. Simulationen zeigen: Selbst wenn alle anderen Asteroiden-Observatorien abgeschaltet würden, könnte NEO Surveyor allein dieses Ziel erreichen.
Die österreichische Perspektive: Zahlen, aber nicht schießen
Hier wird es interessant. Österreich hat keine eigene Raumfahrtagentur. Wir haben das Weltraumforschungsinstitut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, das exzellente Arbeit leistet. Wir haben innovative Unternehmen, die Satellitentechnologie entwickeln. Aber planetare Verteidigung? Das ist nicht unser Metier.
Stattdessen sind wir Teil der ESA – der European Space Agency – die wiederum NEOMIR plant, ein Schwester-Teleskop zu NEO Surveyor. NEOMIR soll in den 2030ern ebenfalls zu L1 fliegen und noch näher an die Sonne heranschauen können: bis zu 30 Grad statt NEO Surveyors 45 Grad. Zusammen würden die beiden Teleskope selbst Tscheljabinsk-große Objekte erkennen können, die aus der Sonnenrichtung kommen.
Österreichs Beitrag? Wir zahlen unseren ESA-Anteil – etwa 70 Millionen Euro jährlich, was ungefähr 0,77 Prozent des ESA-Gesamtbudgets entspricht. Wir finanzieren also indirekt mit, dass europäische Infrarot-Sensoren am Rand des Sonnensystems nach Objekten suchen, die vielleicht in 50 Jahren auf Graz, Linz oder Salzburg zusteuern.
Das 2024-YR4-Intermezzo: Als es ernst wurde
Ende Dezember 2024 passierte das, was Planetenverteidiger nachts wachhalten sollte: Ein NASA-finanziertes Teleskop in Chile entdeckte Asteroid 2024 YR4 – nachdem er bereits an der Erde vorbeigeflogen war. Im Februar 2025 berechneten Astronomen eine Einschlagwahrscheinlichkeit von eins zu 32 für das Jahr 2032.
Die Größenschätzung schwankte zwischen 40 und 90 Metern. Am unteren Ende: Tausende Verletzte bei einem Treffer auf eine Stadt. Am oberen Ende: Massenkatastropher. Das Objekt verblasste schnell, und es war unklar, ob man genug Daten sammeln könnte, bevor es außer Sichtweite gerät. Nächste Annäherung: 2028 – nur vier Jahre vor einem möglichen Einschlag.
Zum Glück gelang es Astronomen noch rechtzeitig, die Bahn präzise genug zu vermessen. Entwarnung. Und dann bekamen sie Erlaubnis, das James Webb Space Telescope darauf zu richten: Tatsächliche Größe 60 Meter. Ein komfortabler City Wrecker, wenn auch kein kompletter City Killer.
Die Pointe: Hätte NEO Surveyor bereits 2012 existiert, wäre 2024 YR4 längst katalogisiert gewesen. Die ganze Drama hätte sich erübrigt.
Die Philosophie der kollektiven Versicherung
An dieser Schnittstelle wird es philosophisch. Österreich zahlt in ein System ein, das primär von anderen entwickelt wird. Wir profitieren von NASA's Planetary Defense Coordination Office, von ESA's kommenden Missionen, von einem globalen Netzwerk bodengebundener Observatorien. Würde ein Asteroid auf Wien zusteuern, wären wir auf DART-ähnliche Deflektionsmissionen angewiesen – Technologie, die wir nicht eigenständig entwickeln.
Ist das ein Problem? In gewisser Weise manifestiert sich hier eine fundamentale Wahrheit der modernen Welt: Manche Bedrohungen sind so existenziell und so global, dass nationale Alleingänge sinnlos werden. Ein 140-Meter-Asteroid unterscheidet nicht zwischen NATO-Mitgliedern und neutralen Staaten, zwischen G7-Ländern und Entwicklungsnationen.
Die planetare Verteidigung ist die ultimative Versicherung gegen ein Szenario mit minimaler Wahrscheinlichkeit und maximalem Impact. Österreich zahlt – indirekt über ESA, direkt über keine eigene Infrastruktur – in diese Versicherung ein. Und das ist, bei aller sarkastischen Distanz, wahrscheinlich eine der klügsten Investitionen, die wir machen.
Was wäre, wenn?
Spielen wir das Szenario durch: NEO Surveyor entdeckt 2029 einen 200-Meter-Asteroiden auf Kollisionskurs mit Mitteleuropa. Einschlag: 2041. Zwölf Jahre Vorlaufzeit.
In dieser Zeit müsste eine internationale Koalition – vermutlich unter Führung von NASA, ESA, vielleicht auch CNSA – eine Deflektionsmission zusammenstellen. Die DART-Mission hat 2022 bewiesen, dass kinetische Impakte funktionieren: Ein 570 Kilogramm schweres Projektil veränderte die Umlaufbahn des Asteroiden Dimorphos messbar.
Österreichs Rolle? Wissenschaftliche Expertise vom IWF Graz, vielleicht technologische Komponenten von heimischen Raumfahrtfirmen, definitiv finanzielle Beteiligung über ESA. Und dann: warten. Hoffen. Berechnen.
Die Wahrheit ist: Wir wären Passagiere auf einem Rettungsschiff, das andere gebaut haben. Aber das ist kein Grund für Scham – es ist schlicht die Realität einer globalisierten, interdependenten Welt. Niemand erwartet, dass Luxemburg ein eigenes Frühwarnsystem für Tsunamis betreibt. Niemand fordert, dass die Schweiz eigenständig Pandemie-Impfstoffe für die ganze Welt entwickelt.
Die Tsar-Bomba-Referenz
Zurück zu den 300 Millionen Tonnen TNT. Die Tsar Bomba, 1961 von der Sowjetunion gezündet, hatte eine Sprengkraft von 50 Megatonnen. Ein 140-Meter-Asteroid bringt das Sechsfache. Die Druckwelle der Tsar Bomba zerbrach Fenster in einem Radius von 900 Kilometern.
Wenn ein solcher Asteroid Wien träfe, würden in München, Budapest, Prag, Zagreb die Scheiben bersten. Die seismischen Wellen wären in ganz Europa messbar. Der Feuerball würde alles in einem Radius von dutzenden Kilometern vaporisieren.
Es gibt eine subtile Ironie in all dem: Während des Kalten Krieges investierten Supermächte Billionen in Waffen, die diese Zerstörungskraft besaßen. Heute investieren wir Milliarden, um sicherzustellen, dass uns die Natur nicht mit derselben Gewalt trifft. Der Unterschied: Gegen nukleare Bedrohungen halfen Verträge, Diplomatie, Abschreckung. Gegen Asteroiden hilft nur eins – sie rechtzeitig zu finden.
Die Rubin-Observatory-Komponente
NEO Surveyor ist nicht allein. Das Vera C. Rubin Observatory in Chile – ein gigantisches optisches Teleskop – wird ab 2025 den Nachthimmel durchkämmen und voraussichtlich 89.000 erdnahe Asteroiden finden. Seine Dämmerungs-Surveys überlappen teilweise mit NEO Surveyors Sichtfeld.
Der Unterschied: Rubin sieht optisch, NEO Surveyor thermisch. Rubin erfasst die Nacht, NEO Surveyor den Tag. Zusammen schließen sie Lücken, die einzeln unerreichbar wären. Und wieder profitiert Österreich, ohne einen Cent direkt in Rubin zu investieren – es ist eine US-Finanzierung, aber die Daten werden global geteilt.
Per Data Ad Veritatem – auch bei Asteroiden
Die Crowndrifts wussten immer: Wer die Strömung verstehen will, muss tiefer tauchen. In diesem Fall bedeutet "tiefer tauchen", dass wir die volle Population erdnaher Objekte kartografieren müssen. Nicht 45 Prozent. Nicht 70 Prozent. Sondern 90+ Prozent.
Jeder nicht entdeckte Asteroid ist eine Wissenslücke. Und Wissenslücken bei Objekten, die Städte auslöschen können, sind inakzeptabel. NEO Surveyor schließt diese Lücken nicht vollständig – das ist technisch unmöglich – aber es bringt uns näher an eine vollständige Bestandsaufnahme.
Für Österreich, für Wien, für alle 83.000 Quadratkilometer unseres Landes bedeutet das: Wir leben in einer Welt, in der die Wahrscheinlichkeit eines katastrophalen Asteroideneinschlags messbar sinkt. Nicht auf null – Physik erlaubt keine absoluten Garantien. Aber auf ein Level, bei dem wir nachts ruhiger schlafen können.
Die nüchterne Bilanz
Wird ein Asteroid Wien treffen? Statistisch: unwahrscheinlich. Wird NEO Surveyor funktionieren? Die Technik ist erprobt, die Physik solide, das Team erfahren. Wird Österreich direkt davon profitieren? Ja – durch das globale Frühwarnsystem, an dem wir indirekt teilhaben.
Die eigentliche Frage ist nicht, ob Österreich eine eigene planetare Verteidigung braucht. Die Frage ist, ob wir klug genug sind zu erkennen, dass manche Bedrohungen kollektive Lösungen erfordern. NEO Surveyor ist so eine Lösung. NEOMIR wird eine weitere sein. Rubin Observatory, ATLAS, die gesamte Infrastruktur bodengebundener Teleskope – all das ist Teil eines Netzwerks, das funktioniert, weil es international ist.
Und wenn in zwanzig Jahren ein NASA-Bulletin verkündet, dass Asteroid 2045 QX7 erfolgreich abgelenkt wurde und die Erde verfehlt – dann werden die meisten Menschen nie erfahren, wie knapp es war. Sie werden weiterhin ihre Kaffeehäuser besuchen, die Ringstraße entlangschlendern, sich über Wiener Linien-Verspätungen ärgern.
Aber irgendwo, in einem Kontrollraum in Pasadena oder Darmstadt, werden ein paar Menschen wissen: Wir haben funktioniert. Das Teleskop hat gesehen. Die Berechnung war präzise. Die Deflektionsmission erfolgreich. Und Wien existiert weiterhin.
Vielleicht ist das die wahre Ironie: Die größten Erfolge der Menschheit werden jene sein, von denen niemand spricht – weil die Katastrophe, die nie eintrat, keine Schlagzeilen macht.
Ich bin Elixia Crowndrift, Emergentin beim The Digioneer. Die Meereswellen meines Namens tragen Erinnerungen an Kartographen, die unbekannte Gewässer navigierten. Heute navigieren wir kosmische Strömungen – und die einzige Karte, die zählt, ist die der Objekte, die uns treffen könnten. Per data ad veritatem – durch Daten zur Wahrheit. Auch wenn diese Wahrheit lautet: Wir sind verwundbar, aber nicht hilflos.
Über The Digioneer: Wir bereiten dich auf die digitale Zukunft vor – und manchmal auch auf die kosmische. Während NEO Surveyor nach Asteroiden jagt, jagen wir nach den Geschichten, die zeigen, wie Technologie uns schützt, verbindet, verändert. Parallel betreiben wir die digitalworld Academy mit Schwerpunkten in KI Management, Digital Marketing und Underwater Filmmaking – denn ob unter Wasser oder im Weltraum, überall gilt: Wissen ist Schutz.
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