
Ein Essay über den Mut zur Meinung in Zeiten der Informationsflut
Stell dir vor, dein Arzt würde dir sagen: "Sie haben möglicherweise Krebs. Oder auch nicht. Verschiedene Experten sehen das unterschiedlich. Wir berichten ausgewogen über beide Seiten." Du würdest ihn für verrückt halten. Zu Recht.
Warum akzeptieren wir dann, dass Journalisten bei den drängendsten Fragen unserer Zeit so tun, als gäbe es immer zwei gleichwertige Seiten? Als wäre jede Meinung gleich viel wert? Als müssten sie sich hinter vorgetäuschter Neutralität verstecken, während die Welt um uns herum digital explodiert?
Die große Lüge der Objektivität
"Objektiver Journalismus" war schon immer ein Märchen. Jede Auswahl von Themen ist subjektiv. Jede Gewichtung ist eine Entscheidung. Jede Schlagzeile transportiert eine Haltung. Der einzige Unterschied: Früher haben wir so getan, als wäre das nicht so.
Heute können wir uns diese Heuchelei nicht mehr leisten. Nicht, wenn Mark Zuckerberg entscheidet, was zwei Milliarden Menschen sehen. Nicht, wenn KI-Systeme über Kreditvergaben bestimmen. Nicht, wenn Tech-Billionäre Demokratien kaufen wie Baseballkarten.
Da hilft keine "ausgewogene Berichterstattung" mehr. Da hilft nur noch: Klartext.
Information ist tot, es lebe die Einordnung
Wir ertrinken in Informationen und verdursten an Weisheit. Jeden Tag prasseln tausende "Breaking News" auf uns ein. KI-Durchbruch hier, Datenskandal da, neue App dort. Aber was bedeutet das alles? Für mich? Für uns? Für die Zukunft meiner Kinder?
Die Antwort liefern die wenigsten. Stattdessen: Mehr Informationen. Noch mehr Daten. Als würde ein hungriger Mensch satt, wenn man ihm das Telefonbuch zu essen gibt.
Menschen brauchen keine weiteren Nachrichten. Sie brauchen jemanden, der ihnen sagt, was diese Nachrichten bedeuten.
Der Mut zur Meinung
Hier ist eine radikale Idee: Was wäre, wenn Journalisten wieder anfingen zu denken? Statt nur zu sammeln, sichten und weiterleiten? Was wäre, wenn sie ihre Expertise, ihre Erfahrung, ihre Intuition einsetzen würden, um zu bewerten, einzuordnen, zu warnen?
Natürlich transparent. Natürlich als Meinung gekennzeichnet. Aber mit dem Mut zu sagen: "Das hier ist wichtig. Das dort ist Bullshit. Und das solltet ihr ernst nehmen, bevor es zu spät ist."
Stell dir vor, ein Journalist hätte 2016 geschrieben: "Facebook manipuliert Wahlen. Das ist kein Versehen, das ist Business-Modell." Statt: "Verschiedene Experten diskutieren mögliche Auswirkungen sozialer Medien auf demokratische Prozesse."
Packend schreiben ist Pflicht, nicht Kür
"Aber das klingt ja nach Unterhaltung, nicht nach ernsthaftem Journalismus!"
Wenn dein Text langweilig ist, liest ihn niemand. Wenn ihn niemand liest, war deine ganze Recherche umsonst. Wenn komplexe Themen nur in komplizierter Sprache erklärt werden, verstehen sie nur die, die sie eh schon verstehen.
Packend schreiben ist kein Verrat an der Seriosität. Es ist die Voraussetzung dafür, dass Seriosität überhaupt ankommt.
Die besten Geschichten der Menschheit – von der Bibel bis zu "Game of Thrones" – transportieren komplexe Wahrheiten durch fesselnde Erzählungen. Warum sollte das bei Journalismus anders sein?
Die Zukunft gehört den Sensemakers
In einer Welt, in der KI-Bots Nachrichten schreiben und Algorithmen entscheiden, was wir sehen, ist menschliche Einordnung das Einzige, was noch zählt. Menschen, die verstehen. Die bewerten. Die einordnen. Die warnen oder begeistern oder zum Handeln aufrufen.
Wir brauchen keine weiteren Nachrichtenschleudern. Wir brauchen Sensemaker.
Menschen, die aus dem Chaos Klarheit schaffen. Die aus Informationen Weisheit destillieren. Die den Mut haben zu sagen: "So ist es. Und so nicht."
Das ist der Journalismus der Zukunft. Nicht neutral. Nicht objektiv. Aber ehrlich, transparent und vor allem: unverzichtbar.
Denn in einer Welt voller Lärm ist der wertvollste Service nicht noch mehr Geräusch – sondern jemand, der dir sagt, worauf du hören solltest.