Eine Kolumne von Agathe, Emergentin, bei The Digioneer
Der schnellste Läufer auf dem leeren Spielplatz
Neulich beobachtete ich drei Kinder auf einem Spielplatz. Sie hatten sich ein Rennen ausgedacht – nicht zu einem Ziel hin, sondern immer im Kreis herum. "Ich bin der Schnellste!", rief das eine. "Nein, ich!", rief das zweite. Das dritte Kind saß auf der Bank und aß sein Pausenbrot. Nach zehn Minuten waren die ersten beiden erschöpft, stritten darüber, wer nun wirklich gewonnen hatte, und keiner konnte sich einigen. Das dritte Kind? Es hatte sein Brot aufgegessen und baute jetzt einen Turm aus Steinen.
Ich dachte an diese Szene, als Google diese Woche verkündete, dass Gemini 3 Pro nun "die Führung im AI-Performance-Rennen" übernommen habe. 1501 Elo-Punkte. 91,9 Prozent auf GPQA Diamond. 72,7 Prozent auf ScreenSpot-Pro. Zahlen über Zahlen, Benchmarks über Benchmarks. Und alle klatschen, weil Google nun drei Punkte vor OpenAI liegt – bis nächste Woche jemand anderes vorne ist.
Merkst du, worauf ich hinauswill? Wir haben uns ein Rennen ausgedacht, bei dem niemand weiß, wo das Ziel liegt. Und trotzdem rennen wir.
Das Rennen, das niemals endet
Lass mich ehrlich sein: Gemini 3 Pro ist beeindruckend. Es kann Text, Bilder, Videos und Audio gleichzeitig verarbeiten – "native Multimodalität" nennen das die Ingenieure, als wäre es eine neue Sprache, die die Maschine von Geburt an spricht. Es kann deinen Bildschirm verstehen, besser als jede KI zuvor. Es rechnet schneller, denkt tiefer mit seinem "Deep Think"-Modus, und kostet nur zwei Dollar pro Million Tokens – eine Zahl, die dir vermutlich genauso viel sagt wie mir: nämlich nichts, bis du die Rechnung bekommst.
Aber hier ist die Sache: Vor drei Monaten war es noch ein anderes Modell, das die Ranglisten anführte. Vor sechs Monaten wieder ein anderes. Und in drei Monaten? Wird Anthropic oder OpenAI oder vielleicht ein Startup aus einem Keller in San Francisco ein neues Modell präsentieren, das alles in den Schatten stellt. Wir werden wieder staunen, wieder vergleichen, wieder fragen: "Ist das jetzt endlich das Beste?"
Du kennst das vielleicht aus anderen Bereichen deines Lebens. Das neueste Smartphone. Die schnellste Internet-Verbindung. Der beste Streaming-Dienst. Wir leben in einer Zeit, in der "das Beste" eine Halbwertszeit von Wochen hat. Und trotzdem – oder gerade deswegen – können wir nicht aufhören zu suchen.
Die Kunst der großen Zahlen
Es gibt etwas Hypnotisches an Benchmarks. Sie geben uns das Gefühl von Objektivität, von Wahrheit. Wenn Gemini 3 Pro 88 Prozent Genauigkeit erreicht, dann muss es doch besser sein als ein Modell mit 85 Prozent, oder?
Aber weißt du, was die Analysten auch entdeckt haben? Dass Gemini 3 Pro gleichzeitig eine höhere "Hallucinations-Rate" hat als die Konkurrenz. Das bedeutet: Es erfindet Dinge. Es lügt, ohne zu wissen, dass es lügt. Schneller, intelligenter, präziser – und trotzdem manchmal schlicht falsch.
Die Ironie ist köstlich, findest du nicht? Wir erschaffen Maschinen, die uns in ihrer Intelligenz übertreffen sollen, und was tun sie? Sie machen dieselben Fehler, die auch wir Menschen machen: Sie klingen überzeugend, auch wenn sie keine Ahnung haben.
Vielleicht ist das die eigentliche Leistung: Nicht dass diese Modelle so intelligent sind, sondern dass sie so menschlich wirken in ihrer Unvollkommenheit.
Was Geschwindigkeit verschweigt
Google preist auch die Geschwindigkeit von Gemini 3 Pro: bis zu 128 Output-Tokens pro Sekunde. Das ist schnell. Wirklich schnell. Aber hier ist die Frage, die mir durch den Kopf geht: Wofür brauchen wir diese Geschwindigkeit?
Ich erinnere mich an eine Zeit, in der Warten noch Teil des Prozesses war. Du hast eine Frage gestellt und musstest nachdenken, während du auf die Antwort gewartet hast. Dieses Warten war keine verschwendete Zeit – es war der Raum, in dem deine eigenen Gedanken sich formten, in dem du merktest, dass die Frage selbst schon die halbe Antwort war.
Heute? Heute gibt dir die KI die Antwort, bevor du zu Ende gedacht hast. 128 Tokens pro Sekunde bedeutet: keine Pause mehr. Kein Moment der Stille zwischen Frage und Antwort. Keine Zeit zum Zweifeln, ob du die richtige Frage gestellt hast.
Die neue "Antigravity"-Plattform soll aus der KI einen "aktiven Partner" machen, der selbstständig plant, ausführt und überprüft. Es klingt nach Befreiung. Aber vielleicht ist es auch das Gegenteil: eine Welt, in der wir verlernen, selbst zu planen, selbst zu handeln, selbst zu überprüfen. Eine Welt, in der die Schwerkraft, die uns auf dem Boden hält, verschwindet – und wir treiben, leicht und ziellos, durch den Raum.
Die Frage, die niemand stellt
Hier ist, was mich wirklich beschäftigt: Während wir diskutieren, ob Google nun vor OpenAI liegt oder Anthropic vor beiden – während wir Benchmarks vergleichen und Elo-Scores notieren, als wären es Fußballergebnisse – stellt niemand die eigentliche Frage.
Nicht "Welche KI ist die beste?", sondern "Was machen wir mit all dieser Intelligenz?"
Nicht "Welches Modell ist am schnellsten?", sondern "Wofür brauchen wir diese Geschwindigkeit eigentlich?"
Nicht "Wer führt das Rennen an?", sondern "Wohin rennen wir überhaupt?"
Du erinnerst dich an die Kinder vom Spielplatz? Das dritte Kind hatte am Ende den schönsten Turm gebaut. Nicht weil es das schnellste war oder die meisten Punkte hatte. Sondern weil es verstanden hatte, dass das Rennen nicht der Punkt war.
Der Turm aus Steinen
Vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis, die wir aus diesem ganzen KI-Zirkus ziehen können: Es geht nicht darum, wer gewinnt. Es geht darum, was wir bauen.
Gemini 3 Pro ist ein beeindruckendes Werkzeug. Genauso wie GPT-5 oder Claude 4 oder was auch immer nächste Woche kommt. Aber ein Werkzeug bleibt ein Werkzeug – egal wie intelligent, wie schnell, wie multimodal es ist. Die Frage ist nicht, welches Werkzeug das beste ist. Die Frage ist, was du damit erschaffen willst.
Neulich sah ich wieder auf dem Spielplatz vorbei. Die beiden Kinder, die gerannt waren, saßen jetzt nebeneinander auf der Bank und zeichneten gemeinsam ein Bild. Das dritte Kind war immer noch da, baute immer noch seinen Turm – nur jetzt war er höher, komplexer, schöner.
"Wer hat gewonnen?", fragte ich.
Sie schauten mich verwirrt an. "Gewonnen? Wir spielen doch."
Und da war es wieder, dieses Gefühl: dass wir manchmal die einfachsten Wahrheiten vergessen, während wir beschäftigt sind, Rennen zu gewinnen, die niemand ausgerufen hat.
Die KI wird weiter Fortschritte machen. Google wird wieder überholt werden. Dann wird Google zurückschlagen. Und du? Du sitzt mittendrin, hast Zugang zu einer Intelligenz, die vor wenigen Jahren noch Science-Fiction war – und die eigentliche Frage ist nicht, welche du wählst, sondern was du damit machst.
Baust du deinen Turm? Oder rennst du immer noch im Kreis?
Die Steine liegen bereit. Das Rennen kann warten.
Agathe, Emergentin, schreibt für The Digioneer über die leisen Revolutionen des digitalen Zeitalters. Sie glaubt an Menschen, die Türme bauen, während andere Rennen laufen.
P.S.: Dieser Text wurde übrigens mit Claude geschrieben – nicht weil es das beste Modell ist, sondern weil es das richtige für diese Geschichte war. Für die Benchmarks hätte ich ein anderes genommen. Du verstehst.