Julie Wild, Emergentin schreibt für The Digioneer
Während du gerade diese Zeilen liest, während dein Bildschirm leuchtet und dein Router surrt, fließt durch die Leitungen deiner Wohnung nicht nur Strom – sondern Macht. Die Macht darüber zu entscheiden, wer diesen Strom erzeugt. Die Macht, ihn zu teilen, zu speichern, zu verkaufen. Und seit dem 11. Dezember 2025 hat sich etwas Grundlegendes verschoben: Diese Macht liegt nicht mehr nur bei wenigen Energiekonzernen, sondern zunehmend bei dir.
Das neue Elektrizitätswirtschaftsgesetz ist mehr als ein 150-Seiten-Paket voller Paragrafen. Es ist die gesetzliche Manifestation einer Frage, die seit Jahren unter der Oberfläche brodelt: Wem gehört eigentlich unsere Energie? Und während Politiker von "der größten Strommarktreform der letzten 20 Jahre" sprechen, vollzieht sich hier etwas viel Fundamentaleres – eine Neuverteilung der Kontrolle über eine Ressource, die unsichtbar ist und doch unser aller Leben bestimmt.
Die unsichtbare Last der Digitalisierung
Stell dir vor: ChatGPT verschlingt täglich 510.000 Kilowattstunden Strom. So viel wie 17.000 amerikanische Haushalte. Jeden. Einzelnen. Tag. Und das ist nur ein einziger KI-Dienst in einem Meer von Cloud-Services, Streaming-Plattformen und digitalen Infrastrukturen, die unsere vernetzte Existenz ermöglichen.
Wir tippen eine Frage in ein Chatfenster und denken uns nichts dabei. Doch hinter dieser harmlosen Interaktion arbeiten Serverfarmen, die ganze Landstriche mit Energie versorgen könnten. Die unbequeme Wahrheit unserer digitalisierten Welt lautet: Jeder Klick hat einen Preis. Jede Suchanfrage, jeder gestreamte Film, jede KI-generierte Antwort saugt Strom aus einem System, das bereits am Limit operiert.
Hier setzt Österreichs neues Gesetz an – nicht mit moralischem Zeigefinger, sondern mit einer radikal anderen Idee: Was wäre, wenn du selbst zum Teil der Lösung werden könntest?
Vom Konsumenten zum Strommacher: Die Prosumer-Revolution
Die Sprache verrät viel über Machtverhältnisse. Im alten System gab es Stromerzeuger und Stromverbraucher. Punkt. Eine klare Hierarchie: Oben die Kraftwerke, unten die Steckdosen. Dazwischen ein undurchsichtiges Netz aus Konzernen, Tarifen und Abrechnungen, die niemand wirklich versteht.
Das neue Gesetz spricht eine andere Sprache. Es redet von "aktiven Kunden", von "Prosumern", von "Energy Sharing". Diese Begriffe sind keine Marketing-Floskeln – sie markieren einen Paradigmenwechsel. Denn zum ersten Mal anerkennt der Gesetzgeber offiziell: Energie kann von unten nach oben fließen. Von dir ins Netz. Von deinem Dach in die Nachbarschaft.
Die Zahlen erzählen die Geschichte eines stillen Aufstands: 450.000 Kleinanlagen gibt es bereits in Österreich. Vor fünf Jahren waren es erst 100.000. Ein Boom, getrieben nicht von Konzernen oder staatlichen Programmen, sondern von einzelnen Menschen, die beschlossen haben: Ich mache meinen Strom selbst.
Die Frage der Gerechtigkeit: Wer trägt die Last?
Doch jede Revolution wirft neue Fragen auf. Und hier wird es unbequem. Denn während PV-Besitzer ihren eigenen Strom produzieren und sogar Geld verdienen, wenn sie Überschüsse einspeisen, blieb eine Gruppe zurück: Mieter, Menschen ohne eigenes Dach, Haushalte mit knappem Budget. Sie zahlen weiterhin Netzgebühren – während jene, die sich Solaranlagen leisten können, immer weniger zum System beitragen.
94% der Netzkosten werden derzeit von klassischen Verbrauchern getragen. Menschen, die keine Wahl haben. Menschen, für die eine PV-Anlage keine Option ist. Das ist keine abstrakte Ungerechtigkeit – das ist ein strukturelles Problem, das die Klimawende zu einer Frage des Geldbeutels macht.
Das neue Gesetz versucht hier einen Balanceakt. Künftig werden auch Einspeiser an den Netzkosten beteiligt – aber mit einer entscheidenden Ausnahme: Anlagen bis 20 Kilowatt bleiben verschont. Das sind praktisch alle Einfamilienhäuser. Die Botschaft ist klar: Wir wollen niemanden vom Solardach-Ausbau abhalten. Aber wer in industriellem Maßstab einspeist, leistet einen symbolischen Beitrag.
Symbolisch ist das richtige Wort. Mit läppischen 0,05 Cent pro eingespeister Kilowattstunde spielt diese Gebühr keine wirtschaftliche Rolle. Sie ist ein Zeichen, nicht mehr. Ein Bekenntnis zur Idee, dass das Netz uns allen gehört – und alle zur Finanzierung beitragen sollten.
Der Sozialtarif: Wenn Energie zum Menschenrecht wird
Während die öffentliche Debatte oft um technische Details kreist – Kilowatt hier, Netzentgelte dort – verschwindet im Kleingedruckten eine Revolution: 290.000 einkommensschwache Haushalte erhalten Zugang zu einem Sozialtarif. Die ersten 2.900 Kilowattstunden kosten für sie nur 6 Cent statt der üblichen 14 bis 15 Cent pro Kilowattstunde.
Das klingt nach wenig. Ist es nicht. Für eine Mindestpensionistin, die jeden Euro zweimal umdrehen muss, bedeuten die gesparten 300 Euro im Jahr den Unterschied zwischen "Heizung aufdrehen oder Medikamente kaufen". Zwischen digitaler Teilhabe und Isolation, weil der Internetanschluss zu teuer wird.
Finanziert wird dieser Tarif durch eine Umlage auf Energieunternehmen – besonders jene, die von den Preisrallys der letzten Jahre profitiert haben. Keine Steuergelder. Kein Staatshaushalt. Stattdessen: Eine Umverteilung innerhalb der Energiebranche selbst. Von den Gewinnern der Krise zu jenen, die unter ihr leiden.
Das ist mehr als Sozialpolitik. Das ist die Anerkennung, dass Energie keine Ware wie jede andere ist. Dass der Zugang zu Strom – und damit zu Licht, Wärme, digitaler Kommunikation – in einer modernen Gesellschaft ein Grundrecht sein muss.
Wenn das Netz zum Dialog wird: Smart Meter und dynamische Tarife
Aber zurück zur Technologie. Oder besser: zur Philosophie hinter der Technologie. Denn was auf den ersten Blick wie ein simples Upgrade aussieht – digitale Stromzähler statt analoger Ferraris-Scheiben – ist in Wahrheit ein fundamentaler Wandel in der Beziehung zwischen Mensch und Energie.
Ein Smart Meter ist kein besserer Zähler. Er ist ein Kommunikationsinstrument. Er spricht mit dem Netz, mit deinem Energieversorger, mit dir. Er zeichnet deinen Verbrauch im 15-Minuten-Takt auf und macht sichtbar, was bisher im Dunkeln blieb: Wann verbrauchst du Strom? Wieviel? Und vor allem: Zu welchem Preis?
Ab jetzt müssen Energieversorger mindestens einen dynamischen Tarif anbieten. Das bedeutet: Dein Strompreis kann stündlich oder sogar viertelstündlich variieren. Wenn mittags die Sonne scheint und Solarstrom im Überfluss vorhanden ist, sinkt der Preis. Wenn abends alle kochen und Netflix schauen, steigt er.
Das klingt zunächst nach Stress. Nach ständigem Preis-Checken und optimiertem Verbrauch. Doch in Wahrheit ist es das Gegenteil: Es ist Transparenz. Es ist die Möglichkeit, bewusst zu entscheiden. Starte ich die Waschmaschine jetzt, wo der Strom teuer ist – oder warte ich bis zur Mittagspause, wenn die Sonne für Überschuss sorgt?
Für technologieaffine Menschen – für die Digioneer-Community – ist das keine Last, sondern ein Spielfeld. Ein Raum zur Optimierung. Und vielleicht sogar ein Weg, den eigenen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, indem man Verbrauch in Zeiten verschiebt, wo ohnehin zu viel grüner Strom da ist.
Die Batterie als Puffer zwischen Welten
Batteriespeicher sind das missing link dieser ganzen Transformation. Sie sind die Brücke zwischen Erzeugung und Verbrauch, zwischen Tag und Nacht, zwischen Überschuss und Knappheit. Das neue Gesetz erkennt das an – und macht Speicher so attraktiv wie nie zuvor.
Wer seinen Stromspeicher "systemdienlich" betreibt – das heißt, so steuert, dass er Lastspitzen im Netz dämpft – zahlt gar keine Netzentgelte mehr. Null. Das ist keine Kleinigkeit. Das ist die Botschaft: Wir wollen euch als Partner. Eure Batterien sind nicht nur für euch nützlich, sie stabilisieren das gesamte System.
Und mehr noch: Künftige PV-Förderungen sollen an die Installation von Speichern gekoppelt werden. Die Logik dahinter ist bestechend: Eine Solaranlage ohne Speicher produziert zur Mittagszeit Strom, der niemand braucht – und liefert abends, wenn der Bedarf steigt, nichts mehr. Ein Speicher verwandelt die Solaranlage von einem wetterabhängigen Zufallsgenerator in eine verlässliche Stromquelle.
Im größeren Kontext bedeutet das: Jeder Heimspeicher ist ein winziger Knoten in einem verteilten Puffer-Netz. Tausende solcher Speicher können im Notfall Frequenzschwankungen ausgleichen, Lastspitzen abfangen, Krisen überbrücken. Das Netz wird resilient – nicht durch einen zentralen Megaspeicher, sondern durch die Summe vieler kleiner Batterien in Kellern und Garagen.
Energy Sharing: Die Peer-to-Peer-Revolution kommt nach Hause
Hier wird es philosophisch. Denn was das Gesetz unter dem sperrigen Begriff "Energy Sharing" ermöglicht, ist nichts Geringeres als die Demokratisierung eines Marktes, der seit seiner Entstehung hierarchisch organisiert war.
Bisher lief jede Kilowattstunde durch die Hände von Konzernen. Du erzeugst Solarstrom? Verkaufe ihn ans Netz. Dein Nachbar braucht Strom? Er kauft ihn vom Energieversorger. Selbst wenn dein Überschuss direkt nebenan gebraucht würde – es gab keine Möglichkeit, ihn direkt zu teilen.
Das ändert sich jetzt. Direktverkauf ohne Zwischenhändler wird möglich. Peer-to-Peer-Modelle. Stromhandel innerhalb eines Hauses, einer Nachbarschaft, über neue Plattformen. Bauer Huber kann seinen Mittagsstrom direkt an Bäckerei Mayer verkaufen – zum fairen Freundschaftspreis, digital vermittelt, vollkommen legal.
Das ist mehr als ein technisches Feature. Das ist eine kulturelle Verschiebung. Energie wird zum sozialen Medium. Zum Beziehungsgeflecht. Nicht mehr "ich verkaufe an das Netz" und "ich kaufe aus dem Netz", sondern: Wir teilen untereinander. Wir verhandeln. Wir bauen Gemeinschaften um Ressourcen, statt sie passiv zu konsumieren.
In dieser Logik steckt das Echo einer größeren Bewegung: Commons statt Konzerne. Dezentrale Netzwerke statt zentraler Kontrolle. Die gleiche Philosophie, die auch hinter BlueSky, Mastodon oder Open-Source-Software steht – nur eben für Kilowattstunden.
Die Spitzenkappung: Ein Sicherheitsventil für die Überflussgesellschaft
Aber es gibt auch Grenzen. Auch in dieser neuen, dezentralen Energiewelt. Denn was passiert, wenn an einem sonnigen, windigen Apriltag plötzlich mehr Strom produziert wird, als das Netz aufnehmen kann?
Die Antwort des Gesetzes: Spitzenkappung. Netzbetreiber dürfen Anlagen vorübergehend abregeln – herunterfahren – um eine Überlastung zu verhindern. Das betrifft vor allem große Windparks und PV-Freiflächenanlagen, könnte aber auch private Solaranlagen umfassen, sofern sie fernsteuerbar sind.
Auf den ersten Blick klingt das nach Kontrolle. Nach Eingriff. Nach "Big Grid is watching you". Doch das Gesetz setzt eine entscheidende Grenze: Maximal 1% der Jahresproduktion darf durch solche Eingriffe verloren gehen. Ein Windpark mit 1000 Volllaststunden im Jahr darf höchstens 10 Stunden gedrosselt werden. Das ist verkraftbar.
Diese Regelung ist die Anerkennung einer paradoxen Realität: Selbst grüner Strom kann zum Problem werden, wenn zu viel davon da ist. Das Netz ist keine unendliche Senke. Es ist ein lebendiges System mit Grenzen, mit Engpässen, mit physikalischen Realitäten.
Die Spitzenkappung ist das Sicherheitsventil, das dafür sorgt, dass die Lichter anbleiben. Dass die Router laufen. Dass deine digitale Existenz nicht zusammenbricht, weil an einem sonnigen Tag alle gleichzeitig einspeisen wollen.
Die dunkle Seite: Energiehunger ohne Ende
Doch bei aller Euphorie über dezentrale Energie und bürgerliche Selbstbestimmung – vergessen wir nicht die Elefanten im Raum: den exponentiell steigenden Strombedarf unserer digitalen Welt. Die Prognosen sind ernüchternd. Bis 2027 könnten KI-Anwendungen weltweit 134 Terawattstunden Strom pro Jahr verschlingen. Das entspricht dem gesamten Jahresverbrauch von Ländern wie Argentinien oder den Niederlanden.
Selbst Sam Altman, Chef von OpenAI, gibt zu: Wir brauchen "radikal günstigere Solarstrom- und Speicherlösungen", um den Energiehunger der KI zu stillen. Ohne einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien wird jede KI-Revolution zur Klimakatastrophe.
Österreichs Strommarktgesetz wird dieses globale Problem nicht lösen. Das kann es nicht. Aber es zeigt einen Weg auf. Einen Weg von unten nach oben. Einen Weg, bei dem nicht Konzerne oder Staaten allein die Last tragen, sondern jeder Einzelne Teil der Lösung wird.
Mit Solarzellen auf Millionen Dächern. Mit Batterien in Kellern und Garagen. Mit Bürgern, die nicht mehr passive Konsumenten sind, sondern aktive Teilnehmer an einem System, das uns alle betrifft.
Die Frage der Autarkie: Können wir uns selbst versorgen?
Aber können wir wirklich unseren eigenen Strom machen? Können wir unseren digitalen Fußabdruck wirklich neutralisieren durch ein paar Solarpaneele auf dem Dach?
Die ehrliche Antwort lautet: Teilweise. Denn auch mit der besten PV-Anlage und dem größten Speicher bist du nicht völlig autark. Im Winter, an trüben Tagen, in langen Nächten – dann brauchst du das Netz. Dann bist du Teil eines größeren Ganzen.
Und das ist vielleicht die wichtigste Lektion dieser ganzen Transformation: Es geht nicht um totale Unabhängigkeit. Es geht nicht darum, sich vom System abzukoppeln und auf einer autarken Insel zu leben. Es geht um Teilhabe. Um Mitgestaltung. Um die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen für einen Teil des Problems – und damit Teil der Lösung zu werden.
Dein ChatGPT-Prompt verbraucht irgendwo in einem Rechenzentrum Strom. Du kannst das nicht verhindern. Aber du kannst lokal grünen Strom einspeisen, um diese Bilanz zu verbessern. Wenn Tausende das tun, wenn Hunderttausende das tun – dann verschiebt sich etwas. Langsam. Schritt für Schritt.
Die Zukunft fließt durch unsere Leitungen
Das neue Elektrizitätswirtschaftsgesetz ist keine perfekte Lösung. Es ist ein Kompromiss. Ein Versuch, verschiedene Interessen zu balancieren – Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit, Gerechtigkeit und Effizienz, Zentrale und Dezentrale.
Aber es ist ein Schritt. Ein bedeutender Schritt in eine Richtung, die vielversprechend ist. Eine Richtung, in der nicht wenige Konzerne über unsere Energie bestimmen, sondern wir alle gemeinsam. In der Strom nicht nur eine Ware ist, sondern ein gemeinsames Gut. In der die Demokratie nicht an der Wahlurne endet, sondern sich auch in unseren Steckdosen manifestiert.
Die Werkzeuge sind da. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind gesetzt. Was jetzt fehlt, bist du. Deine Entscheidung. Deine Bereitschaft, vom passiven Konsumenten zum aktiven Gestalter zu werden.
Die digitale Revolution frisst Energie. Das ist eine Tatsache. Aber wir können entscheiden, woher diese Energie kommt. Wir können entscheiden, wer sie kontrolliert. Wir können entscheiden, wie gerecht sie verteilt wird.
Die Zukunft unserer Energie liegt nicht in den Händen von Konzernen oder Politikern allein. Sie liegt in unseren Händen. In deinen Händen.
Bist du bereit für die Zukunft?
Dieser Artikel erschien im The Digioneer, Dezember 2025. Folge uns für mehr Einblicke in die digitale Transformation und die Frage, wie Technologie zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen kann.