Es ist zwei Uhr nachts in der Notaufnahme der Klinik Ottakring in Wien. (Du kennst sie vielleicht noch unter dem alten Namen: Wilhelminenspital. 2020 umbenannt – weil ein neuer Name bekanntlich Wartezeiten verkürzt.) Eine Frau, nennen wir sie Maria, sitzt auf einer dieser unbequemen Plastikbänke, die überall auf der Welt gleich aussehen. Sie hat Schmerzen in der Brust, Atemnot, und die Krankenschwester will wissen: Welche Medikamente nimmt sie? Welche Allergien hat sie? Wann war die letzte Untersuchung?

Maria weiß es nicht mehr genau. Sie ist 68, hat drei verschiedene Fachärzte, und irgendwo in ihrer Handtasche hat sie einen zerknitterten Zettel mit Medikamentennamen, von denen sie nicht weiß, wie man sie ausspricht.

Was Maria nicht weiß: Alle diese Informationen existieren bereits. Digital. In ELGA, Österreichs elektronischer Gesundheitsakte. Seit 2015. Für 99 Millionen Euro aufgebaut.

Aber niemand schaut rein.


BREAK – Wenn die Zukunft schon da ist, aber keiner sie öffnet

Im Dezember 2024 verkündet Bundeskanzler Christian Stocker nach einem Treffen mit Ländern und Gemeinden stolz: „Es gibt eine Einigung mit den Ländern, dass es aus einer Hand geschehen muss." Er spricht von schnelleren OP-Terminen, mehr Spitalbetten, einer besseren Gesundheitsversorgung.

Die Realität? Der Standard titelt am selben Tag: „Die Gesundheitsreform bleibt in weiter Ferne."

Österreich hat Ende 2023 eine Gesundheitsreform beschlossen. 4,5 Milliarden Euro über fünf Jahre. Das Versprechen: Mehr Kassenärzte, bessere Primärversorgung, weniger Wartezeiten, digitale Integration. Ein Jahr später? Die Länder streiten mit dem Bund über Zuständigkeiten. Die Ärztekammer blockiert. Die Spitäler kämpfen gegen den Ausbau des niedergelassenen Bereichs.

Und mittendrin liegt ELGA. Die elektronische Gesundheitsakte, die jeder Österreicher hat – ob er will oder nicht. Ein System, das alle Befunde, alle Medikamente, alle Impfungen zentral speichern könnte. Das Doppeluntersuchungen verhindern könnte. Das im Notfall Leben retten könnte.

Aber: Der Rechnungshof stellte 2024 fest, dass ELGA ihr Potenzial nicht ansatzweise ausschöpft. Die Daten sind unvollständig. Wahlärzte nutzen das System kaum. Und selbst dort, wo Daten existieren, werden sie oft nicht abgerufen.

99 Millionen Euro für eine Akte, die keiner liest.


ANALYZE – Warum niemand die Akte aufschlägt

Wenn du dir anschaust, warum Österreichs Gesundheitssystem feststeckt, findest du drei strukturelle Wahrheiten, die sich gegenseitig blockieren:

1. Föderale Fragmentierung als Machtstrategie

Österreich hat neun Bundesländer. Jedes Land verwaltet seine eigenen Spitäler. Der Bund zahlt. Die Sozialversicherung organisiert die Kassenärzte. Und alle kämpfen um Kontrolle.

Die Länder wollen keine zentrale Steuerung – denn das würde bedeuten, Spitäler zu schließen, Strukturen anzupassen, politische Macht abzugeben. Also fordern sie Geld vom Bund, wehren sich aber gegen jede Reform, die ihre Autonomie einschränkt.

Ergebnis? Ein System, das laut Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer jährlich sieben Milliarden Euro verschwendet – durch Doppelgleisigkeiten und ineffiziente Strukturen. Ohne Qualitätsverlust einzusparen.

2. Die Ärztekammer als Strukturblockade

Die österreichische Ärztekammer ist eine der mächtigsten Lobbys des Landes. Und sie kämpft gegen jede Veränderung, die die Autonomie der Ärzte einschränkt – selbst wenn diese Veränderung Patienten helfen würde.

Als die Regierung 2023 versuchte, den Sozialversicherungen zu erlauben, Einzelverträge mit Ärzten abzuschließen, drohte die Kammer mit einem Exodus der Kassenärzte. Die ÖVP knickte ein. Die Reform wurde verwässert.

Das gleiche Muster bei ELGA: Kassenärzte sind ab 2025 zur Diagnosecodierung verpflichtet. Wahlärzte erst ab 2026. Viele weigern sich bis heute, Befunde vollständig hochzuladen – aus Prinzip oder Bequemlichkeit.

3. Digitalisierung ohne Digitalkultur

Österreich hat die Infrastruktur. ELGA existiert. Die eCard funktioniert. Aber niemand nutzt sie richtig.

Warum? Weil die digitale Infrastruktur aufgebaut wurde, ohne die Kultur zu verändern. Ärzte wurden nicht trainiert. Patienten nicht informiert. Das System wurde als technisches Projekt behandelt – nicht als soziale Transformation.

Der Rechnungshof bemängelte 2024, dass das Gesundheitsministerium nach dem Start 2015 keine konkreten Ziele mehr formuliert hat. ELGA war fertig – und dann? Nichts. Kein Plan, wie man das System wirklich in den Alltag integriert.

Und so liegt die Akte da. Digital. Vollständig. Ungenutzt.


BUILD – Was du tun würdest, wenn du könntest

Also stell dir vor, du könntest die Gesundheitsversorgung in Österreich neu bauen. Nicht von Grund auf – die Infrastruktur ist da. Aber du dürftest die Blockaden durchbrechen. Was würdest du tun?

1. ELGA zur Pflicht machen – für alle.

Ab sofort müssen alle Gesundheitsdiensteanbieter – Kassenärzte, Wahlärzte, Spitäler, Labore, Radiologen – ihre Daten vollständig in ELGA einspeisen. Nicht 2026. Nicht „wenn es sich ausgeht". Jetzt.

Und: Jede Patientin, jeder Patient bekommt beim nächsten Arztbesuch eine 10-Minuten-Einführung, wie sie ihre Akte einsehen. Mit einem Smartphone. In drei Sprachen.

ELGA ist kein „nice to have". Es ist Grundversorgung.

2. Ein bundesweiter Gesundheitsplan – durchgesetzt.

Österreich braucht eine zentrale Gesundheitssteuerung. Nicht neun Länderpläne und 22 Sonderagenturen, die sich gegenseitig blockieren.

Konkret: Der Bund erstellt einen verbindlichen Versorgungsplan. Welche Spitäler bleiben offen. Wo werden Primärversorgungszentren gebaut. Wie viele Kassenärzte braucht jede Region.

Die Länder dürfen mitdiskutieren. Aber am Ende entscheidet der Bund – und kürzt das Geld, wenn Länder sich weigern, Strukturen anzupassen.

3. Daten, die arbeiten – nicht nur liegen.

ELGA darf kein passives Archiv sein. Es muss aktiv genutzt werden.

Beispiel: Wenn du seit drei Jahren kein Blutbild gemacht hast und über 50 bist, bekommst du eine automatische Erinnerung.

Wenn du ein neues Medikament verschrieben bekommst, prüft das System automatisch Wechselwirkungen mit deinen anderen Medikamenten – und warnt den Arzt.

Wenn du in der Notaufnahme landest, sehen die Ärzte sofort deine letzten Befunde, deine Allergien, deine Medikamente. Ohne dass du etwas sagen musst.

Das ist keine Science-Fiction. Das ist Estland. Seit 15 Jahren.

4. Transparenz über Wartezeiten – öffentlich.

Jedes Spital, jede Kassenordination muss seine durchschnittlichen Wartezeiten veröffentlichen. Online. In Echtzeit.

Nicht als Scham-Instrument – sondern als Planungstool. Damit Patienten wissen: Wo bekomme ich schneller einen Termin? Und damit die Politik sieht: Wo fehlen Ressourcen?

Finnland schafft es, dass du innerhalb von zwei Stunden einen Arzttermin im Umkreis von zehn Kilometern bekommst – digital koordiniert. Warum nicht Österreich?

5. Ärztekammer? Beratung, keine Blockade.

Die Ärztekammer darf die Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Aber sie darf nicht mehr die Versorgung der Bevölkerung blockieren.

Konkret: Die Sozialversicherung bekommt das Recht, Einzelverträge anzubieten – ohne Veto der Kammer. Kassenverträge werden attraktiver gemacht, aber wer keinen will, steht nicht im Weg.

Und: Die Verpflichtung zur ELGA-Nutzung ist nicht verhandelbar. Wer als Arzt arbeiten will, akzeptiert digitale Dokumentation. Punkt.


Und jetzt?

Es ist halb vier Uhr morgens hier in Brooklyn. Die Straßen sind leer, nur ein paar Lieferwagen und die U-Bahn, die unter meinen Füßen rumpelt. Ich denke an Maria im Wilhelminenspital. An die Ärzte, die in der Nacht Entscheidungen treffen müssen – ohne die Informationen, die längst existieren.

Und ich frage mich: Wie viele Nächte müssen noch vergehen, bis Österreich die Akte aufschlägt, die es schon hat?

Denn das ist die traurige Wahrheit dieser Warteschleife: Die Zukunft ist schon da. Sie liegt auf einem Server. In ELGA. Vollständig digitalisiert. Bezahlt.

Sie wartet nur darauf, dass jemand sie endlich nutzt.

Vielleicht ist genau das der Moment, an dem Österreich aufhört, auf eine Reform zu warten – und anfängt, die Infrastruktur zu nutzen, die längst existiert.


Quellen

Rechnungshof: Elektronische Gesundheitsakte ELGA und ELGA GmbH (2024)
Bundesrat: Gesundheitsreform 2024 (Dezember 2023)
Nationalrat: ÖVP und Grüne beschließen Gesundheitsreform (Dezember 2023)
Der Standard: Der Kanzler sprach von "Einigung", die Gesundheitsreform bleibt in weiter Ferne (Dezember 2024)
Gesundheitswirtschaft: Gesundheitsreform 2024 – Ein mittlerer Wurf (Dezember 2023)
CompuGroup Medical: Föderalistisches Gesundheitssystem – Pro & Contra (Juli 2025)
Salzburg24: Was sich mit dem ELGA-Ausbau ändert (Juli 2024)
Sozialministerium: Zielsteuerungsvertrag 2024 bis 2028


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