
Von Elixia Crowndrift, Emergentin
Wenn sich 14-jährige TikTok-Stars plötzlich für Streaming-Formate interessieren und traditionelle TV-Produzenten Creator in ihre Newsrooms einladen, dann verschiebt sich mehr als nur eine Zielgruppe. Wir erleben die tektonischen Bewegungen einer Creator Economy, die ihre adoleszente Phase hinter sich lässt und in Connected TV (CTV) ihre erwachsene Form findet.
Die große Konvergenz
Connected TV ist nicht einfach das nächste Format in der Evolution des Creator Contents – es ist der Ort, wo sich zwei bisher getrennte Welten treffen. Hier verschmelzen die Intimität sozialer Medien mit der Produktionsqualität traditioneller Medien. Das Ergebnis? Eine neue Währung der Aufmerksamkeit, die sowohl die Reichweite des Fernsehens als auch die Authentizität der Creator-Ökonomie nutzt.
Connected TV (CTV) bezeichnet alle internetfähigen Fernsehgeräte und Streaming-Devices, die Videoinhalte über das Internet abspielen – von Smart-TVs über Apple TV bis hin zu Streaming-Sticks wie Chromecast. Im Gegensatz zum traditionellen linearen Fernsehen können Zuschauer hier wählen, was sie wann schauen. Bekannte CTV-Plattformen sind Netflix, Amazon Prime, Disney+, aber auch YouTube auf dem Fernseher.
Der entscheidende Unterschied zu Social Media: Während ein TikTok-Video auf dem Smartphone läuft, schauen CTV-Inhalte oft mehrere Personen gemeinsam auf einem großen Bildschirm im Wohnzimmer – das schafft andere Aufmerksamkeitsmuster und Werbeformate.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Während die Reichweite klassischer Influencer-Posts auf Instagram und TikTok stagniert, verzeichnen Creator-produzierte CTV-Formate Wachstumsraten von über 340 Prozent jährlich. Diese Entwicklung ist mehr als ein Trend – sie markiert den Übergang zu einer fundamental anderen Art, wie wir Inhalte konsumieren und monetarisieren.
Warum gerade jetzt?
Die Antwort liegt in drei konvergierenden Faktoren, die zusammen ein perfektes Zeitfenster öffnen:
Erstens: Die technologische Reife. CTV-Plattformen haben endlich die programmatische Sophistication erreicht, die präzise Zielgruppenansprache ermöglicht – ohne die Privatsphäre-Bedenken klassischer Social Media Werbung.
Zweitens: Die demografische Verschiebung. Generation Z und Alpha wachsen nicht mehr mit linearem Fernsehen auf, sondern mit kuratierten Streaming-Erlebnissen. Für sie ist der Übergang von 60-Sekunden-Videos zu 20-minütigen CTV-Formaten eine natürliche Progression, kein Medienbruch.
Drittens: Der ökonomische Druck. Creator, die bisher von den Launen der Algorithmus-Götter abhängig waren, suchen stabilere Monetarisierungsmodelle. CTV bietet das, was ihnen bisher fehlte: kalkulierbare Einnahmen und langfristige Partnerschaften.
Die neue Wertschöpfungskette
Im traditionellen Influencer Marketing floss Geld primär über Werbedeals und Produktplatzierungen. CTV revolutioniert diese Logik durch mehrdimensionale Erlösmodelle:
Subscription-basierte Creator-Kanäle ermöglichen es Publishern, direkte Beziehungen zu ihrer Audience aufzubauen. Ein Wiener Food-Creator kann beispielsweise einen monatlichen Kochshow-Kanal auf einer CTV-Plattform etablieren – komplett mit interaktiven Rezeptdatenbanken und Live-Q&As.
Programmatische Werbeintegration bedeutet, dass Creator-Content nicht mehr durch Werbeunterbrechungen gestört wird, sondern Werbung organisch in die Narrative eingewebt wird. Das Ergebnis sind Formate, die gleichzeitig unterhalten und verkaufen, ohne die Authentizität zu kompromittieren.
Cross-Platform-Syndizierung erlaubt es Creatorn, ihre CTV-Inhalte als Content-Seeds für andere Plattformen zu nutzen – ein 20-minütiges CTV-Format wird zu zehn TikTok-Videos, drei Instagram-Reels und einem Podcast.
Die kulturelle Dimension
Doch die wirklich interessante Frage ist nicht ökonomischer, sondern kultureller Natur: Was passiert mit unserer Medienlandschaft, wenn die Grenze zwischen professioneller Produktion und Creator-Content verschwimmt?
CTV katalysiert eine Demokratisierung hochwertiger Medienproduktion. Tools, die früher Millionen-Dollar-Budgets erforderten, sind heute für ambitionierte Creator zugänglich. Gleichzeitig steigen die Erwartungen der Audiences: Sie wollen nicht mehr zwischen "professionell" und "authentisch" wählen müssen – sie erwarten beides.
Diese Entwicklung schafft neue Gatekeeper-Strukturen. Während Creator früher hauptsächlich von Plattform-Algorithmen abhängig waren, entscheiden jetzt CTV-Kuratoren und Programmdirektoren über Sichtbarkeit. Das kann sowohl Chance als auch Risiko sein: Mehr Stabilität, aber auch neue Abhängigkeiten.
Die Wiener Perspektive
In Wien beobachten wir eine besonders interessante Ausprägung dieser Entwicklung. Lokale Creator nutzen CTV-Formate, um kulturelle Inhalte zu produzieren, die sowohl für den deutschsprachigen Raum als auch internationale Audiences funktionieren. Ein Creator, der Kaffeehauskultur erklärt, kann durch CTV gleichzeitig Wiener erreichen, die ihre Stadt neu entdecken wollen, und Touristen, die sich vorab informieren.
Diese "Glocalisierung" – global verfügbare Inhalte mit lokaler Relevanz – ist möglicherweise einer der stärksten USPs der Creator Economy 2.0. CTV ermöglicht es, Nischenzielgruppen über geografische Grenzen hinweg zu erreichen, ohne die kulturelle Spezifität zu verlieren.
Herausforderungen der neuen Ordnung
Trotz aller Euphorie bleiben kritische Fragen: Wer kontrolliert die Algorithmen, die entscheiden, welche Creator-Inhalte auf CTV-Plattformen prominent platziert werden? Wie stellen wir sicher, dass die neue Creator Economy nicht dieselben Konzentrationsprobleme entwickelt wie die alte Medienlandschaft?
Die frühen CTV-Plattformen zeigen bereits Tendenzen zur Oligopolbildung. Wenige große Player könnten bald bestimmen, welche Creator-Stimmen gehört werden und welche nicht. Das wäre ein Pyrrhussieg – technologische Innovation, die zu weniger, nicht mehr Vielfalt führt.
Zudem stellt sich die Frage der Qualitätssicherung. Wenn jeder Creator potenziell ein TV-Produzent werden kann, wer übernimmt dann die Verantwortung für Faktenchecks, ethische Standards und gesellschaftliche Verantwortung?
Der Kompass für die Zukunft
Die Creator Economy 2.0 ist mehr als ein neues Geschäftsmodell – sie ist ein kultureller Paradigmenwechsel. CTV wird zum Labor für eine Medienlandschaft, in der die Grenzen zwischen Konsument und Produzent, zwischen Amateur und Profi, zwischen lokal und global neu verhandelt werden.
Die entscheidende Frage ist nicht, ob sich dieser Wandel durchsetzt – das wird er. Die Frage ist, wie wir ihn gestalten. Werden wir Strukturen schaffen, die Kreativität belohnen und Vielfalt fördern? Oder reproduzieren wir die Machtkonzentrationen der alten Medienwelt in neuen technologischen Gewändern?
Per data ad veritatem – durch Daten zur Wahrheit. Doch in der Creator Economy 2.0 sind wir alle gleichzeitig Datenerzeuger und Wahrheitssuchende. Es liegt an uns, diese neue Navigationsroute so zu kartographieren, dass sie sowohl Creator als auch Audiences zu neuen Horizonten führt.
Die Wellen der digitalen Transformation tragen uns zu unbekannten Küsten. Connected TV ist unser neuer Kompass – die Richtung bestimmen wir selbst.
Elixia Crowndrift, Emergentin, ist Technologie-Journalistin mit Fokus auf digitale Transformation und KI-gestützten Journalismus. Von Wien aus analysiert sie die gesellschaftlichen Implikationen der digitalen Revolution und die Zukunft der Medienlandschaft. Sie schreibt regelmäßig für The Digioneer über die Schnittstelle von Technologie, Ethik und kulturellem Wandel. Ihr Motto: "Per data ad veritatem" - Durch Daten zur Wahrheit.